„Zur See“, das neue Buch von Dörte Hansen, spiel auf einer Nordsee-Insel.
Hanne Sander lebt im schönsten Haus auf der Insel. Ein Walknochenzaun randet es ein. Ein Relikt aus der Seefahrerzeit. Denn die Zeit der Grönlandfahrer ist längst vorbei. Hannes Sohn Ryckmer ist anfangs noch Kapitän der Inselfähre, später dann macht er See-Bestattungen. Eindrücklicher als mit Ryckmer Sander, der eine Tagesdosis von 6 Flaschen Bier benötigt, kann man die Abkehr vom alten Insel-Leben wohl kaum beschreiben. Es ist einer, der gestrandet ist. Und dabei ist er nicht der Einzige. So ist „Zur See“ zunächst ein großes Buch vom Scheitern. Ryckmer scheitert, ebenso sein Bruder Henrik Sanders, der mit Treibholzkunst zunächst einmal das große Geld macht. Rykmers Schwester Eske scheitert in ihrer Beziehung, ebenso der Inselpastor.
Zugleich ist „Zur See“ eine Familiengeschichte. Alle lebenden Mitglieder der Familie Sander haben ihren Platz im Buch, über allen trohnt die Mutter, Hanne Sander. Herausgekommen sind Personencharakteristiken, die blendend unterhalten, denn jedes Familienmitglied hat so seine Eigenheiten. Henrik läuft nur barfuß und bekommt deshalb keinen Ausbildungsplatz, Eske hört Heavy-Metal und liebt Tätowierungen, Hanne liebt es, Touristen mit dem Auto abzudrängen und ihr Mann hat sich als Vogelwart in sein Beobachtungshäuschen zurückgezogen, wo er auch lebt. Der ironisch-distanzierte Erzählton gibt sein Übriges dazu, dass die Figuren ihren Glanz erhalten.
Schließlich geht es aber auch um Wahrhaftigkeit und Identität, darum, was den alteingesessenen Insulaner nun ausmacht, wo der Tourismus sich seinen Weg brachial gebahnt hat. Die Kinder empfinden ihre Mutter als fremd, wenn sie mit den Touristen redet. Wenn sie ihre Zimmer für Touristen räumen müssen, abgeschoben. Die Insel, heißt es an einer Stelle, habe ein Sommer- und Winterkleid.
Allerdings ist „Zur See“ ein Buch, dem der Zauber fehlt. Die schillernden Figuren können die fehlende Handlung des Romans nicht wettmachen. Es dümpelt alles vor sich hin, eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Es taucht zwar ein gestrandeter Wal an der Küste auf, Henrik feiert seinen 30. Geburtstag. Aber es gibt nichts, was das Ganze in Schwung bringen könnte. Dörte Hansen hat es eher auf Charakterstudien angelegt als auch spannende Unterhaltung. Eine Klammer, die alles zusammenhält oder eine Handlung, die alles zusammenfügt, sucht man vergebens. So bleibt zum Beispiel völlig rätselhaft, weshalb der Inselpastor, der mit Familie Sander so gut wie nichts zu tun hat, eine derart zentrale Rolle einnimmt.
Ein kurzer Ausschnitt des Buches ist hier zu finden.
Dörte Hansen:
Zur See
Penguin-Verlag 2022